Vor kurzem hatte ich wieder die Gelegenheit meine Präsentation, Quilometro Um – na vida e uma viagem, in einer kleinen Runde zu halten. Das Feedback auf meinen Vortrag und natürlich auch die vielen Bilder ist immer äußerst positiv. Im Vortrag präsentiere ich meine Reise, z.B. die Abenteuer in der Atacama Wüste, aber auch viele weitere besondere Momente, Begegnungen, die mich persönlich und den Charakter meiner Reise stark beeinflusst haben und immer noch beeinflussen. All die Worte der Zuschauer, ob groß oder klein, sind wirklich sehr motivierend für mich. Es bringt mir richtig Freude meine Geschichte dem Publikum zu präsentieren. Dennoch hat mich ein Kommentar die letzten Tage wirklich sehr beschäftigt…
Bevor ich weiter davon berichte einige Worte der Erklärung. Kurz vor Ende der Präsentation zeige ich das Bild mit dem kleinen Mädchen, wie sie mit dem Hund in der trostlos wirkenden Gasse spielt. Ihre Pupe hat sie dafür beiseite gelegt. Clara ist ihr Name. Das Motiv finde ich einfach wunderschön. Clara mit dem Straßenhund. In genau diesem Moment scheint mir das kleine Kind einfach nur glücklich. In der Serie von Bildern lacht das Mädchen auch noch laut und küsst den Vierbeiner auf die Schnauze. Das T-Shirt, oder vielmehr der Spruch darauf, passt wirklich wie die Faust auf das Auge. „Familia feliz“ – „Glückliche Familie“. Noch jetzt bekomme ich beim Betrachten von dem Bild Gänsehaut. Es war das erste Bild, welches ich an jenem Tag geschossen hatte. Das Bild steckt für mich voller persönlicher Emotionen. Das liegt aber nicht nur an der schönen Fotografie, Clara oder dem Hund. Nein – es stecken noch weitere Gedanken dahinter. Erinnerungen an die Heimat von Clara.
Maceio ist eine moderne Großstadt die, wie fast alle in Brasilien, extreme soziale Differenzen nicht leugnen kann. Riesige moderne Apartmenthäuser reihen sich neben einfachere Wohnhäuser oder noch einfachere aus Blech und Holz gezimmerte Hütten. Oben beschwert man sich, wenn die Klimaanlage mal wieder ausfällt und weiter unten ist man froh, wenn es einfach nur Strom und Wasser gibt. So plump ich das hier schreibe, so plump habe ich all das schon erlebt. Als Reisender gelingt es mir immer wieder Einblick in die verschiedensten sozialen Schichten zu finden. Das macht das Reisen interessant und gibt mit die Möglichkeit das Land so kennenzulernen wie die Einheimischen es sehen. „Willst du Brasilien kennenlernen – musst du die Menschen kennenlernen!“ Dies sind Worte eines Freundes aus Rio de Janeiro. Manchmal schaffen jene Einblicke aber auch Frust, Unverständnis oder schlichtweg Traurigkeit.
Über eine zufällige Bekanntschaft war es mir also möglich für mehrere Tage die Favela Jaragua zu besuchen. Ein kleines Fischerdorf, welches gegen den Druck der Stadtverwaltung und einiger Großkonzerne, um ihre jahrzehntelange Existenz kämpft. Die Lage des Dorfes ist äußert ungünstig neben dem Großseehafen, einer großen Ölindustriefirma und moderneren Wohnvierteln gelegen. Eine Touristenstrandmeile wünscht sich die Stadt und deswegen finden schon erste Versuche der Umsiedlung statt. Das sei hier nur am Rande erwähnt. Zu komplex und heikel ist das Thema, um es hier auch nur annähernd umfangreich und mit dem nötigen sachlichen Hintergrundwissen beschreiben zu können.
Die Häuser der Favela sind äußerst simpel. Die meisten sind einfach aus verschiedenstem Holz zusammen gebaut, einige wenige haben feste Mauern. Im inneren findet sich, außer der Klimaanlage, alles was man in einem normalem Haushalt erwarten würde. Küche, Herd, Mikrowelle, Fernseher, Bett, Sofa und so weiter. Einige Hütten haben auch Internetanschluss. Für einige Tage konnte ich mich völlig frei in der Favela bewegen. Ich hatte Freundschaften geschlossen und wurde von den Dorfbewohnern immer herzlich begrüßt. Die Frauen und Kinder hatten mir das Dorf gezeigt, die Männer später was es heißt täglich auf einem kleinen Fischkutter auf das offene Meer zu fahren. Eine Erfahrung die sehr prägend war. Sowohl für den Geist als auch für meinen Magen gleichermaßen.
Alleine über den Tag auf dem Kutter könnte ich einen Roman schreiben. Ok – soviel dann vielleicht doch nicht. Aber ich will hier nur den für mich traurigsten Moment schildern. Beim wiederholten einholen der Netze und beim betrachten der Beute sind mir fast die Tränen gekommen. Zum einen war der Fang wirklich winzig und zum anderen war vor allem eines in den Netzen: Müll. Plastik, Schrott. Nach fast zehn Stunden kehrten die beiden Fischermänner mit einem halben Eimer Garnelen und etwas Fisch nach Hause zurück. Seefrüchte im Wert von 70 Reais, was knapp 22 Euro sind. Zehn Sunden lang hatte der laute Schiffsmotor Diesel verschlungen. Da braucht man kein Wirtschaftler sein. Das rechnet sich einfach nicht. „Alguns dias são melhores“, sagt mir einer der Seeleute. Das hoffe ich wirklich für die Gemeinde, dass es auch bessere Fangtage gibt. Auch an Land ersticken die Fischer regelrecht im Müll. Müll den sie nicht selber produzieren. Eine ungünstige Strömung treibt den Abfall der Stadt den Dorfbewohnern regelrecht vor die Haustüre.
Ich hatte mit Menschen gesprochen, welche schon mehr als sechzig Jahre im Fischerdorf leben. Zu Beginn war es das auch einfach – ein Dorf. Ohne Großstadt – nun ist es eine Favela. Das Meer war sauber und vom Fischfang konnten die Menschen sehr gut leben. Und mehr wollten sie nie! Kein Fortschritt, kein besseres Haus, keine Technologie. Einfach nur Leben. Die junge Generation sieht das natürlich etwas anders. Zumindest den Punkt mit der Technologie. Facebook, Twitter, WhatsApp und Co. ist auch hier kein Fremdwort. Auch Clara ist mir während der Tage in der Favela öfters begegnet. Außer das oben genannte Lachen hatte ich von ihr nie einen anderen Laut gehört. Ich war neben ihr auf dem Sofa gesessen, während im Fernsehen die beliebte Zeichentricksendung Pegga Pip lief. Ich habe sie mir Freunden spielen sehen und während eines Festes im Dorf hatten wir zum Spaß getanzt. Kein Wort war ihren Lippen zu vernehmen! Eine stille Persönlichkeit.
Favela – ein Wort bei dem in Brasilien immer etwas Negatives mitschwingt. Was hatten mich andere Freunde doch vor dem Besuch gewarnt. Viel zu gefährlich sei es dort, als Ausländer kann man dort nicht hingehen und ohnehin wird dort mit Drogen gehandelt. Gut – es gibt sicherlich dunkle Ecken in diesem Land, die gibt es in Deutschland auch. Die Favela dos Pescadores gehört meiner Meinung jedenfalls nicht dazu. Man muss sich eben schlau machen und vor allem eines tun: „Mit den Menschen reden!“ Manchmal finde ich es wirklich unglaublich, wie viel unnötige Angst die Brasilianer vor ihren eigenen Mitmenschen haben.
Das hört sich nun wirklich alles sehr negativ an. Das liegt aber einmal mehr in den Augen des Betrachters. Als verwöhnter Westler sieht man gerne das Schlechte in materieller Armut. Und das ist wohl auch schlichtweg das Problem an dieser Stelle. Die materiellen Defizite mit denen die Menschen der Favela zu kämpfen haben ist eine Sache und ich will es auch gar nicht abstreiten, dass sich der ein oder andere dort ein besseres Leben wünscht. Spricht man allerdings mit den Menschen dort wird man sich oft wundern. Klar – den Kindern fehlt vielleicht das Wissen und der Überblick sich ein anderes Leben vorzustellen. Sie sind einfach Kind und das ist auch gut so. Aber auch Erwachsene geben mir deutlich zu verstehen, dass sie hier, an diesem Ort, einfach nur bleiben wollen und das Leben zum Großteil genießen. All die unschönen Dinge blenden Sie einfach aus, so schein mir das. Aber da bin ich nun wieder der Westler. Vielleicht gibt es ja gar nichts zum „ausblenden“. Was ist denn nun schön und was nicht? Wer ist reich und wer arm? Und vor allem wer ist glücklich im Hier und Jetzt und wer nicht? Wenn ich zwei Graphen nebeneinander zeichnen würde, um all dies zu verdeutlichen, dann würde es zwei Linien geben. Eine steigt stetig, die andere fällt. Reichtum und Glück. Das ist hier keineswegs wissenschaftlich begründet, es sind Erfahrungen meiner Reisen. Egal wo ich auch hingehe, nirgends werde ich im Herzen an lieben und schönen Gefühlen so bereichert wie in „einfacheren“ Umgebungen. Ich vermeide das Wort „arm“ an dieser Stelle bewusst. Arm sind jene welche alles haben und dennoch am Leben vorbei leben. Alles Materielle vergeht und hat auf Dauer keine Substanz.
Kritik und Kommentar:
Und was hat das nun alles mit der Fotografie zu tun? Zurück zum Kommentar: Als ich so von meinen Erlebnissen der Favela erzähle, mit ehrlicher Begeisterung, unterbricht mich plötzlich die junge Brasilianerin mit diesen Worten:
„I don’t see any beauty in poverty!“ – „Ich kann nichts schönes in Armut sehen!“
Da war ich etwas irritiert und konnte die Worte vorerst gar nicht so recht verarbeiten. Neben mir das Bild von Clara auf der Leinwand. Vor mir eine junge Frau die offensichtlich verletzt über meine Worte schien. Das hatte mich doch sehr getroffen und ich fühlte mich auf einmal schuldig etwas Falsches getan zu haben. Ich wollte also etwas genauer darüber nachdenken, was ich nun ja mit diesem Artikel mache.
Als Reisender und Fotograf versuche ich stetig die Welt so sehen wie sie ist . Tag ein Tag aus. Die Welt ist kunterbunt, abwechslungsreich und vom Zufall geprägt. Und die Welt ist nicht nur wunderschön. Klar will ich möglichst schöne, ausdrucksstarke Bilder für mich und natürlich auch für die Personen die ich ablichte erstellen. Jede Begegnung hat einen besonderen Wert. Sei sie auch noch so kurz, sollte der Anspruch an die Fotografie jeder Person würdig werden. Das ist mein Grundgedanke, welcher noch bevor der Auslöser betätigt wird die Richtung bestimmt. Ein Foto ist eine Momentaufnahme. Nie kann ein oder mehrere Bilder oder gar ein Video die wirkliche „reale“ Welt darstellen. Deswegen muss man ja unter anderem auch immer selber Reisen und erleben. Es ist schon ein Unterschied die Welt so zu zeigen wie Sie ist, oder eben jene Gefühle, welche beim erstellen des Bildes mitschwingen.
Claras Leben ist natürlich mehr als ein glückliches Spiel mit einem Hund. Auch sie hat einen 24 Stunden Tag. Mehr als einen winzigen Einblick habe ich nie bekommen und ein Betrachter des Bildes sieht „real“ noch viel weniger. Wie sieht es um die Zukunft des Mädchens aus? Wird es die „Glücklich Familie“ auch für Sie geben? Wird sie auf eine gute Schule gehen können? Wird sie glücklich leben, die Favela vielleicht verlassen und auch ein „besseres“ Zuhause haben? Usw. All das sind offene Fragen die niemand leicht beantworten kann. Ein Mensch hat ein Leben. Ein Foto ist nur eine Momentaufnahme.
Im genanntem Fall waren es aber wohl eher meine Worte, welche die Brasilianerin in einer Weise verletzt haben an die ich nicht gedacht hatte. Später hatte ich noch mehr mit Ihr gesprochen und sie hatte mir von ihrer Kindheit erzählt, welche Sie wohl auch in einem eher wiedrigen Umfeld verbracht hatte. Unterm Strich sei sie glücklich gewesen, aber es gab auch viele unschöne Geschichten. Beim Betrachten des Bildes und meinen Worten wurde in Ihr also eine Erinnerung ausgelöst, was wiederum zu dem für mich irritierenden Kommentar geführt hat. Wie ihr seht ist das alles nicht so einfach. Menschen zu fotografieren war für mich schon immer ein sensibles Thema. Über die Erlebnisse zu berichten scheint mir nun auf einmal noch wessentlich schwieriger und noch sensibler zu sein.
Bis dato war es mir überhaupt nicht bewusst, dass meine Bilder auch negative Gefühle beim Betrachter auslösen können. Das hier soll nun keine Rechtfertigung für meine Worte werden. Ich habe in der Favela wirklich sehr viel über das Leben gelernt. Als Fotograf werde ich noch bedachter damit umgeben müssen, wie, wann und wo ich Menschen fotografiere und vor allem – was für Geschichten ich damit im Nachhinein erzähle. Einer gewissen Verantwortung kann und sollte man sich hier nicht entziehen.
Bilder und Geschichten können manipulierend wirken. Können ein falsches „Bild“ darstellen. Das zählt hier aber keinesfalls zur künstlerischen Freiheit. Die Menschen schenken mir ihr Vertrauen und einen einzigartigen Moment beim Klick des Auslösers. Das ist mehr als ich den Meisten zurück geben kann. Sie verdienen ehrliche Geschichten. Meine Begeisterung ist eine Sache – die wirkliche Welt dennoch zu sehen – das ist die Kunst.
Danke!
In diesem Sinne. Ich wünsche euch was!
Anmerkung 17.06.2015:
Mich hatte knapp ein halbes Jahr nach meinem Besuch in der Favela die Nachricht erreicht, dass die Stadtverwaltung den Ort „gesäubert“ hatte. Ich war zutiefst traurig und emotional berührt. Hier ein Video das ich aufgrund dessen für die Bewohner der Gemeinde erstellt hatte.
@Martin Leonhardt
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Bei diesem Beitrag sind mir fast die Tränen gekommen. Momentan bin ich in Kathmandu und sehe das Elend vieler Leute nach den verheerenden Erdbeben – und wenn ich jemanden anlächle kommt ein Lächeln zurück. Ich bin hier in einem Kinderheim mit 50 Strassenkindern.
Devi, eine 24-jährige Frau ist mir ihrer 19-jährigen Schwester am 25. April aus dem Haus gegangen, nach dem Erdbeben wusste sie nicht mehr wo sich ihre Wohnung unter dem riesigen Trümmerfeld befand. Anfangs April habe ich ihr noch Geld gegeben, um einen Englischkurs zu besuchen, jetzt hat sie nichts mehr, genauso wie ihre Eltern eine Tageswanderung von der nächsten Strasse weg. Aber sie lächelt mich an und meint dass sie froh sei, dass sie lebe und unverletzt sei. Da ich Ihr und anderen meiner Freunde sofort Geld per Western Union senden konnte hatten sie einen Start, weder vom Staat noch von Hilfswerken haben sie bis jetzt etwas gesehen.
Wenn ich in der Schweiz am Morgen die mürrischen Gesichter sehen, welche sich mit dem ÖV bewegen, soviel Lächeln sehe ich den Ganzen Tag nicht wie ich hier in Kathmandu in wenigen Minuten erhalte!
Zwei meiner kürzlich erhaltenen Lieblingsgedanken:
„Glücklich kann man nicht werden. Glücklich kann man nur sein.“
„Zuversicht ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht“
Danke Martin für diesen schönen Text. In Gedanken an Clara und viele andere Kinder, von denen wir soviel lernen können.
Hans-Ueli
Danke Hans für deine Gedanken und deinen Erfahrungsbericht.
LG Martin
Hallo Martin,
Dein Bericht ist schon eine Weile gereift, dennoch ein Gedanke dazu:
Mit Bildern und den eigenen Worten dazu negative Empfindungen auszulösen ist durch nichts und schon gar nicht mehr Bedacht zu verhindern. Was die meisten Menschen nicht begreifen ist, dass wir alle nicht mehr Menschen brauchen, die unsere positiven Empfindungen auf sich ziehen, die Guten sind, sondern welch ein Schatz es ist jemandem zu begegnen, dem man seine negativen Empfindungen/Erfahrungen entgegen bringen und zumuten kann, denn an denen tragen wir schwer. Die junge Frau hatte durch Dich die Gelegenheit sich unangenehmer Erfahrungen gegenwärtig zu werden und ihrem Neid, ein Gefühl, das mit so viel Scham verbunden ist, Ausdruck zu geben. Die Scham hast Du einfühlsam unmittelbar miterlebt, ohne das mit der Ihren in Verbindung zu bringen. Die Frau teilte diese unerträgliche Scham auf diese Weise eine Weile und ein Gespräch lang mit Dir.
In Bildern finden wir immer nur uns Selbst, das Vertraute und uns unvertraute, wieder. Niemals aber die wirkliche Welt, dazu hat uns die Natur nicht befähigt. Solange wir unsere Bilder nicht als Ausdruck der „wirklichen Welt“, sondern im Gegenteil als den unserer inneren und unseres Blicks auf diese Welt begreifen und erzählen, behält jeder Betrachter die Freiheit und die Würde auch sich selbst, evtl. auch in seinen unangenehmen und ungeliebten Seiten, in diesen Bildern wieder zu erkennen.
Dann erkennen wir uns vielleicht wechselseitig in unseren Blicken auf das Bild.
Danke Dir!
Danke Thomas..